Gendern? Aber sicher!

Gendern? Aber sicher! Ein Plädoyer

Im Alltag fallen sie uns kaum auf, und doch sind sie da: immense Datenlücken in Wissenschaft, Technik und Gesellschaft. Dazu kommen Rollenzuschreibungen, die seit langer Zeit in unseren Köpfen verankert sind. Beides hat zum Teil verheerende Folgen – und das vor allem für Frauen. Was das mit dem Gendern zu tun hat – und warum wir für gendergerechte Sprache plädieren.

Wenn frau im Kino, einer Bar oder einem öffentlichen Örtchen mal muss, gehört sie fast so selbstverständlich dazu wie der prüfende Blick in den Spiegel: die Schlange vor der Toilette. Dagegen herrscht in der Männertoilette meist wenig Betrieb. Als Frau gewöhnt man sich im Lauf des Lebens daran, selten fragt man sich: Warum ist das eigentlich so? Die britische Journalistin, Autorin und Feministin Caroline Criado-Perez in ihrem Buch „Unsichtbare Frauen“ (dt. Erstausgabe 2020) genau das getan.

Für Damentoiletten wird grundsätzlich genauso viel Platz eingeplant wie für Herrentoiletten. Allerdings finden auf ebendieser Fläche mehr Urinale als Kabinen Platz. Frauen brauchen auf der Toilette bis zu 2,3-mal so lang wie Männer, etwa um einen Tampon zu wechseln. Und oft müssen Frauen einfach öfter, etwa infolge einer Schwangerschaft oder Blaseninfektionen, die bei Frauen achtmal so häufig auftreten wie bei Männern.

Dieses Beispiel zeigt: Als Standard gelten seit jeher Männer, obwohl – friendly reminder – rund die Hälfte der Menschheit aus Frauen besteht. Nun ist die Sache mit den Toiletten nicht lebensbedrohlich. In anderen Bereichen des Lebens ist das aber durchaus der Fall.

 

Sicherheit im Auto – nur für Männer

Frauen werden bei Autounfällen eher verletzt als Männer. Genauer gesagt liegt laut einem EU-Bericht aus dem Jahr 2013 die Wahrscheinlichkeit einer schweren Verletzung für Frauen um 47 % höher als für Männer. Bei gleichen Rahmenbedingungen wie Gurt, Größe, Gewicht und Alter. Was mancher Mann nun gerne auf die Tatsache zurückführt, dass „Frauen nun einmal nicht Autofahren können”, hat eine viel einfachere und vor allem logischere Ursache: (die meisten) Autos werden nicht für Frauen gebaut.

Denn Frauen sind nicht einfach kleinere Männer. Weibliche Körper sind anders aufgebaut, weisen zum Beispiel einen anderen Schwerpunkt auf. Die Möglichkeit, dass auch Schwangere autofahren könnten, hat noch kein Autohersteller in Betracht gezogen. Bis heute gibt es in der EU kein Zulassungsverfahren für Autos, in dem ein Test mit „weiblichen” Crash-Test-Dummys vorgesehen ist.

2021 sprach sich die Hamburger zweite Bürgermeisterin Katharina Fegebank (Grüne) für geschlechterinklusive Unfallforschung aus, was umgehend eine reißerische Bild-Schlagzeile samt entsprechendem Kommentar eines Bild-Redakteurs* nach sich zog. Seine Argumentation: Die Forderung sei Unsinn, denn sie unterstelle Frauen, sie seien zu dumm, einen Sicherheitsgurt oder Autositz richtig einzustellen. Dabei ignorierte er jedoch die Tatsache, dass ein für den Durchschnittsmann gebauter Sitz oder Gurt aufgrund seiner Bauweise beispielsweise für eine kleine Frau nicht optimal eingestellt werden kann – auch nicht, wenn die Einstellung von Profis vorgenommen wird.

 

Medizin – nur für Männer

Auch das deutsche Gesundheitssystem ist weitestgehend standardisiert, statt auf die zwei biologischen Geschlechter und diverse soziale Geschlechter einzugehen. Als Standard gilt dabei der männliche Körper. Das liegt daran, dass die Medizin wie viele andere Lebensbereiche auch lange Zeit männlich geprägt war. Als Resultat spricht die WDR-Sendung Quarks sogar von medizinischer Benachteiligung von Frauen.

Prominentestes Beispiel der Gendermedizin ist der Herzinfarkt. Mittlerweile ist bekannt, dass sich die weiblichen Symptome deutlich von den männlichen unterscheiden. Dennoch sterben noch immer mehr Frauen als Männer daran, obwohl ein Herzinfarkt bei beiden Geschlechtern etwa gleich häufig auftritt. Bei vielen anderen Erkrankungen fehlen solche Erkenntnisse bislang – und das, obwohl die Gendermedizin-Pionierin Marianne Legato schon in den 1980er Jahren entdeckte, dass es bei Herzerkrankungen große Unterschiede zwischen Männern und Frauen gibt.

Neben verschiedenen Symptomen gibt es auch hinsichtlich anderen Dingen Unterschiede: bei der Dosierung von Medikamenten (bei Frauen meist geringer), bei der Früherkennung mancher Krankheiten (z. B. werden „frauentypische“ Krankheiten wie Depressionen oder Osteoporose bei Männern später entdeckt), bei der Behandlung und in Sachen Apps und Geräte (Stichwort FemTech und Gender-Data-Gap).

 

Angemessene Bezahlung – nur für Männer

Wissenschaftler rechnen meist mit einer Norm von 40 Wochenstunden, auch in unserer Gesellschaft ist diese Zahl als Durchschnitt anerkannt. Vergessen ist jedoch die Tatsache, dass es allein mit dem Beruf nicht getan ist, denn nach der Arbeit warten daheim noch Haushalt und Kinder – meist allerdings auf die weibliche Hälfte der Menschheit. Und zwar weltweit: So liegt laut einer Untersuchung der Hilfsorganisation Oxfam die durchschnittliche Arbeitszeit eines Mannes bei rund sechseinhalb Stunden am Tag, davon etwas mehr als fünf bezahlt. Frauen arbeiten im Schnitt zehneinhalb Stunden am Tag, wovon aber nur drei bezahlt sind.

Übrigens: Auch das geschlechtsspezifische Lohngefälle, die sogenannte Gender-Pay-Gap, lag 2020 immer noch bei 18 %. Konkret bedeutet das, dass eine Frau für die gleiche Qualifizierung, Arbeit, Arbeitszeit und Verantwortung fast ein Fünftel weniger Lohn bekommt, als ein Mann.

 

Gute Jobchancen – nur für Männer

Die Familie macht einen großen Teil der unbezahlten Arbeit aus. Nach wie vor nehmen Mütter länger Elternzeit als Väter – und verzichten dafür auf Karriere und Einkommen.  Während bei den Männern die Dauer der Elternzeit keinerlei Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit hat, anschließend zum Vorstellungsgespräch eingeladen zu werden, kann man es als Frau nur falsch machen: Eine kurze Elternzeit erscheint unsympathisch, mit einer langen Elternzeit ist man zu lange aus dem Arbeitsmarkt draußen.

Doch Kinder sind für Frauen auch ein Nachteil, wenn sie (noch) nicht einmal da sind: So haben Frauen zwischen etwa Mitte 20 und Ende 30 schlechtere Chancen bei Bewerbungen – sie könnten schließlich schwanger werden. Dass das mittlerweile sogar illegal ist, interessiert nur wenige.

 

Führungspositionen – nur für Männer

Die sogenannte „gläserne Decke” gilt vielen nur als Gerücht. Deshalb musste es auch 2022 werden, bis der Frauenanteil in den Vorständen der DAX-Konzerne auf sagenhafte 19 % stieg. Hier ist man(n) sehr stolz auf dieses Ergebnis, denn knapp ein Fünftel, das ist schon eine ganze Menge. Zur Erinnerung: Beinahe genauso groß ist die Differenz zwischen den Löhnen von Männern und Frauen. Kein Grund zum Feiern. Es gibt immer noch Konzerne ohne eine einzige Frau im obersten Führungsgremium. Bei kleinen und mittelständischen Unternehmen sieht es noch düsterer aus: Hier beträgt der Frauenanteil gerade einmal 16 %.

Dabei haben bereits mehrere Studien bewiesen, dass mehr Frauen in Führungspositionen einem Unternehmen nicht nur nicht schaden, sondern sogar eindeutige Vorteile bringen: zum Beispiel langfristig steigender Unternehmenswert, besseres ESG-Ranking (Environmental, Social, Governance) und effizienteres Arbeiten auf allen Ebenen.

 

Frauen sind eben nicht „mitgemeint”

Leser und Leserinnen haben bei entsprechenden Begriffen ausschließlich männliche Personen vor Augen. Dass das bereits im Kindesalter so ist, zeigten schon vor einigen Jahren eine Studie der Freien Universität Berlin, bei der man mehreren hundert Grundschulkindern verschiedene Berufsbezeichnungen mit Beschreibung vorlas – manchen Kindern nur im generischen Maskulinum, manchen sowohl mit der männlichen als auch der weiblichen Form. Anschließend fragte man die Kinder danach,  ob sie sich vorstellen könnten, in diesem Beruf zu arbeiten. Das Ergebnis: Die Teilnehmerinnen der Befragung, denen man die gendergerechten Berufsbezeichnungen vorgelesen hatte, trauten sich diese Berufe eher zu.

 

… und warum jetzt „gendern”?

Asterisk, Doppelpunkt oder Binnen-I werden keinen dieser Missstände ändern – außer vielleicht das Problem mit den Geschlechterklischees bei Kindern. Das ist uns und übrigens auch den meisten anderen „Gender-Verrückten” da draußen klar. Aber die meisten von uns haben keine direkte Möglichkeit, etwas daran zu ändern, und müssen auf indirekte Möglichkeiten ausweichen.

Wir können entsprechend wählen gehen. Und wir können laut sein. Wir können die Entscheidungsträger:innen ständig daran erinnern, dass es hier Missstände gibt, die geändert werden müssen. „Gendern” ist ein solches Brennpunktthema geworden, dass sich damit hervorragend Lärm machen lässt. Jedes Mal, wenn sich jemand darüber aufregt und eine reißerische Überschrift schreibt, eine Diskussion anfängt und sie mit Rumbrüllen wieder beendet, spielt er oder sie uns in die Hände. „Gendern” ändert nichts. Aber „Gendern” sorgt dafür, dass die Diskussion über Missstände aktuell bleibt.

Denn wenn wir unsere schöne deutsche Sprache „feministisch verhunzen” müssen, dann tun wir das: damit die Frauen der  aktuellen und aller folgenden Generationen einmal genauso viel für die gleiche Arbeit verdienen wie ihre männlichen Kollegen. Damit weniger Frauen in Autounfällen und an unerkannten Herzinfarkten sterben. Damit Frauen auf dem Bau oder als KFZ-Mechanikerinnen und Jungen als Erzieher oder Friseure arbeiten können, ohne schief angeschaut zu werden.

 


Übrigens: Gendern beeinträchtigt die Lesbarkeit nicht.

Die Sorge, dass sich durch das „Gendern” die Lesbarkeit eines Texts verschlechtert, ist laut einer Studie des Instituts für Pädagogische Psychologie von der TU Braunschweig unbegründet. Dabei legte man Studierenden einen Ausschnitt aus einem Stromvertrag in verschiedenen Ausführungen vor, einmal in maskuliner und einmal in geschlechtergerechter Form. Die Versuchspersonen empfanden die geschlechtergerechte Form als nicht komplizierter, nur etwas weniger ästhetisch – was aber auch eine Gewöhnungssache sein könnte.

 


* Auf die Quellenangabe wurde absichtlich verzichtet. Wir möchten dieser Art von Berichterstattung und ihren Urhebern keine Unterstützung in Form von Nennung oder weiterführenden Links gewähren.

3 Gedanken zu „Gendern? Aber sicher! Ein Plädoyer“

  1. „Übrigens: Auch das geschlechtsspezifische Lohngefälle, die sogenannte Gender-Pay-Gap, lag 2020 immer noch bei 18 %. Konkret bedeutet das, dass eine Frau für die gleiche Qualifizierung, Arbeit, Arbeitszeit und Verantwortung fast ein Fünftel weniger Lohn bekommt, als ein Mann.“

    Diese Aussage hält einem Faktencheck nicht stand und bedarf einer Korrektur.

    https://www.destatis.de/EN/Press/2022/03/PE22_088_621.html

    Man muss die Quelle zum widerlegen Ihrer Aussage jedoch nichtmal lesen. Ein Ideologiebefreiter Blick auf unsere Gesellschaft würde ausreichen um festzustellen, dass das nicht stimmen kann.

    Konkret belegt die Statistik: Der Lohnunterschied zwischen Mann und Frau bei möglichst vergleichbaren Bedingungen liegt bei maximal 6%. Darüber hinaus stellt die Studie klar, dass keineswegs von „gleicher Arbeit“ gesprochen werden kann.

  2. Vielen Dank für Ihren Input. Solange ein Lohnunterschied besteht, muss dieser beseitigt werden. Abgesehen davon ist es auch nicht in Ordnung, dass Frauen bei Beförderungen systematisch übergangen werden, weil sie Kinder haben oder bekommen könnten. Durch die sog. Teilzeitfalle geht noch mehr Vermögen verloren. Alles in allem sind wir in Deutschland fortschrittlicher als viele andere Länder dieser Erde, aber von echter Gleichberechtigtung noch sehr weit entfernt.

  3. Hallo Herr Purpur,
    tatsächlich handelt es sich bei den 18 Prozent um die unbereinigte Gender Pay Gap. Diese vergleicht den Durchschnittsverdienst aller Arbeitnehmer beziehungsweise Arbeitnehmerinnen miteinander. Somit sind auch die Verdienstunterschiede erfasst, die etwa durch die unterschiedliche Geschlechterverteilung in den einzelnen Berufen oder durch unterschiedliche Karrierestufen entstehen. Die bereinigte Gender Pay Gap liegt bei sechs Prozent. Sie vergleicht den Verdienstunterschied zwischen Männern und Frauen mit vergleichbaren Qualifikationen, Tätigkeiten und Erwerbsbiografien. Allerdings berücksichtigt sie nicht die Tatsache, dass Frauen in manchen Berufen gar nicht die Karrierechancen wie Männer haben und Ähnliches – aus diesem Grund haben wir uns dafür entschieden, die 18 Prozent zu nennen.

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